Was unsere Stimme alles kann

Instrument des Jahres 2025 ist die Stimme

Die Kombination der Begriffe „Stimme“ und „Instrument“ löste bei mir große Verwunderung aus: Über dieses „Instrument Stimme“ hatte ich mir nie ernsthaft Gedanken gemacht. Hochmotiviert begab ich mich also auf ausführliche Internetrecherche, um diese Wissenslücken zu schließen. Was ich dort lesen konnte, hat mich in Staunen versetzt über die paar Zentimeter Muskel, die wir als Gottesgeschenk der Natur kostenlos von Geburt an mitbekommen haben.

Die menschliche Stimme

Es gibt kein anderes Instrument, bei dem jedes Modell so unterschiedlich klingt dank des spannenden Zusammenspiels aus Muskeln, Stimmlippen und Knorpeln im Kehlkopf. Die aus dem Inneren heraufsteigende Luft des Atems wird durch sog. „Stimmbänder“ in Schwingung versetzt. Diese liegen im Kehlkopf, sind jedoch keine Bänder im eigentlichen Sinne, sondern mit Schleimhaut ummantelte Muskeln und Teil der Stimmlippen, die den Ton erzeugen und die Tonhöhe bestimmen. Es ist wie bei den Orgelpfeifen: Je größer die Stimmlippe, desto tiefer der Ton. Die Stimmlippen eines Neugeborenen sind etwa sechs Millimeter lang und wachsen bis zum Erwachsenenalter auf ca. 15 Millimeter (Sopran) oder gar bis zu 25 Millimeter (tiefer Bass) heran. Je nach Training umfasst der Stimmumfang in der Regel zwischen anderthalb und zweieinhalb Oktaven. Umfänge über drei Oktaven sind sehr selten, berühmt ist Mariah Carey mit einem Stimmumfang von fünf Oktaven.

Wer sich das bewusst macht, ahnt bereits: Wir sollten unsere Stimme viel öfter schonen, denn sie ist verletzlich und kann von Atemwegserkrankungen oder Überlastungen beeinflusst werden. In Berufen, wo hohe Stimmleistungen gegen Lärmpegel gefordert sind – Theater, Kindergärten, Schulen, etc. – können stimmliche Strategien helfen.

Jeder kann lernen, wie er sein „eingebautes“ Instrument individuell hörbar machen und bestmöglich einsetzen kann, und das geht schon ganz früh los. Schon Babys singen. Beim Sprechen lernen exerzieren sie ihre ersten Lautübungen wie Basisgesangsübungen durch. Mit den Jahren verändert sich die Stimme. Bekannt ist der Stimmwechsel in der Pubertät. Der Unterschied zwischen Jungen- und Männerstimme beträgt gewöhnlich eine Oktave. Auch die Frauenstimme kann gegenüber der Mädchenstimme bis zu einer kleinen Terz tiefer klingen. Älteren Stimmen kann man ihre Lebenserfahrung anhören, beispielsweise bei Johnny Cashs letzten Alben. Sängerinnen wie Ella Fitzgerald oder Marianne Faithful gaben und geben ihr ganzes Leben lang grandiose Konzerte.

Die Magie der Stimme

Wir benutzen unsere Stimme intuitiv, ohne nachzudenken, wie ein Ton produziert wird oder bestimmte Gefühle ausgedrückt werden. Die Stimme reagiert sofort auf unseren psychischen Zustand: Jemand ruft an und wir erkennen schon mit den ersten gesprochenen Wörtern, dass etwas nicht stimmt, vor allem wenn wir den Anrufer gut kennen. Wir können die eigene Gefühlswelt nur schwer stimmlich verbergen, unser Gegenüber nimmt feinste Unterschiede im Sound der Stimme und Lautstärke wahr.

Umgekehrt ist aber genau das die Superkraft unserer Stimme. Man muss nichts weiter tun, nur seine Empfindungen zulassen und schon sind wir nach ein paar gesungenen Tönen zu Tränen gerührt oder verliebt in eine Stimme.

Die heilende Kraft des Singens

Yehudi Menuhin sagt „Das Singen ist zuerst der innere Tanz des Atems, der Seele, aber es kann auch unsere Körper aus jeglicher Erstarrung ins Tanzen befreien und uns den Rhythmus des Lebens lehren.“

Singen versetzt uns also in Schwingung, wirkt wie eine Ganzkörperklangmassage und bringt so den ganzen Körper in eine gesündere Disposition. Wir atmen besser und mehr, der Körper wird besser mit Sauerstoff versorgt, Schadstoffe werden abtransportiert. Nach der Chorprobe fühlt man sich leichter, ist besser gelaunt.

Durch das Singen entwickeln wir ein Gefühl für den eigenen Körper. Gerade in unseren Zeiten, wo so viele Dinge und Informationen im Kopf verarbeitet werden, ist das ein kostbarer Aspekt. Singen bietet einen direkten Zugang zur eigenen Achtsamkeit und kann dadurch Belastungen wie Stress abbauen und einem Burnout vorbeugen. Beim Singen aktivieren und balancieren wir unseren Vagusnerv, der einen Teil unseres autonomen Nervensystems darstellt. Ist der Vagus aktiv, können wir uns erholen.

In den 1990er-Jahren untersuchten schwedische Forschende mehr als 12.000 Personen aus allen Altersgruppen und fanden heraus, dass Mitglieder von Chören und Gesangsgruppen eine deutlich höhere Lebenserwartung haben als Menschen, die nicht singen.

Viele Kulturen setzen schon lange bei der Krankenheilung auf die heilende Kraft des Singens. „Es gibt nicht nur das ‚Runner’s High‘ der Jogger, sondern auch ein ‚Singer’s High‘“, stellt Prof. Dr. Gunter Kreutz, Musikwissenschaftler an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg fest. Moderne Therapien machen sich therapeutisches Singen bei Depressionen, Ängsten oder Traumata zunutze ebenso wie bei psychosomatischen Erkrankungen oder Demenz.

Singen schafft Gemeinschaft, ein urzeitliches Grundbedürfnis des Menschen. In einer starken Gemeinschaft wird gemeinsames Handeln und damit das Überleben in schwierigen Situationen deutlich leichter.

Das älteste Instrument der Welt

Wahrscheinlich haben Mütter zu allen Zeiten ihre Kinder in den Schlaf gesummt, lange bevor sie die ersten Worte verstanden. Forscher gehen davon aus, dass schon vor mehr als 150.000 Jahren gesungen wurde.

Vögel und Wale können ohne Gesang nicht überleben. Sie brauchen ihn zur Partnersuche, zur Kommunikation mit Artgenossen oder um Entfernungen einzuschätzen. Wir Menschen könnten auch ohne Gesang überleben. Es stellt sich die Frage, warum sich dennoch das Singen zum zentralen Bestandteil fast aller Kulturen entwickelt hat. Evolutionsforscher Darwin war davon überzeugt, dass der menschliche Gesang die Paarungsrufe der Vögel zum Vorbild nahm. Der deutsche Musikforscher Carl Stumpf fand dagegen Ende des 19. Jahrhunderts heraus, dass die ältesten bekannten Gesänge von Ur- und Naturvölkern keine Liebeslieder oder Paarungsgesänge waren, sondern rituelle, kriegerische oder religiöse Gesänge. Heute beeindrucken wir Gegner mit Fangesängen und gemeinsamen Choreografien.

Gemeinsam Singen macht stark

Beim rituellen oder beim gemeinsamen Singen geht es um ein gemeinsames melodisches Klangerlebnis. Der griechische Philosoph Platon beobachtete bereits in der Antike, dass Menschen vor allem aus einem Bedürfnis nach sozialer Harmonie heraus singen. „Der Mensch singt, weil er auf soziale Beziehungen angewiesen ist und sich einer Gruppe zugehörig fühlen will“, bestätigt der Musikpsychologe David Huron von der Ohio State University im Jahr 2006. Singen synchronisiert den Herzschlag, denn der menschliche Puls folgt dem Rhythmus der Ein- und Ausatmung, die beim gemeinsamen Singen koordiniert wird.

Singen schüttet Glückshormone aus

Viele Menschen singen, weil es ihnen Spaß macht und gut tut. Das ist nicht nur ein subjektives Gefühl, sondern lässt sich auch wissenschaftlich erklären.

Beim Singen werden körpereigene Glückshormone wie Endorphine, Serotonin, Dopamin und Adrenalin ausgeschüttet. Gleichzeitig werden Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin abgebaut. Vorausgesetzt, man singt gerne, verbessert Singen so nachweislich die Stimmung und den allgemeinen Gefühlszustand. Außerdem wird die Zirbeldrüse im Gehirn stimuliert, die das Hormon Melatonin produziert und den Schlaf-Wach-Zyklus reguliert. Singen fördert zudem die Ausbildung antioxidativer Enzyme und hat so einen tumorhemmenden Effekt.

Wenn man in der Gemeinschaft singt, dann ist der positive Effekt noch größer. Nach mehr als einer halben Stunde Gesang schüttet das Gehirn zusätzlich das Bindungshormon Oxytocin aus. Dieses Hormon wird auch bei stark emotionalen Momenten wie beim weiblichen Orgasmus, bei der Geburt eines Kindes oder beim Stillen verstärkt produziert. Oxytocin sorgt auch dafür, dass beim Singen eine innige Beziehung zu Mitsingenden aufgebaut wird.

Singen öffnet Türen und verbindet Menschen auf der ganzen Welt

Die Stimme ist aber nicht allein zum Musizieren da, sondern vielmehr das entscheidende Kommunikationsinstrument und damit eines der wichtigsten Merkmale einer Persönlichkeit.

Zum Jahr der Stimme schreibt das Musikinformationszentrum: „Die Stimme verbindet Menschen auf der ganzen Welt. Sie überwindet kulturelle, sprachliche und geografische Grenzen und schafft eine Basis für Kommunikation und gegenseitiges Verständnis.“ Und weiter: „Die Stimme ist auch das erste Instrument, dessen wir uns bedienen, wenn wir als soziale Wesen miteinander umgehen, wenn wir unsere Gesellschaft gestalten oder Politik verändern wollen.“ Laut dem Musikinformationszentrum ist die Stimme somit „das Instrument, das uns zu Menschen macht“.

Singen aus Protest: „Mit dem Instrument des Jahres verbindet man auch politische Botschaften“, sagt Christine Siegert, Präsidentin der Landesmusikräte in Deutschland. „Wir kennen Arbeiterlieder, Revolutionslieder wie die Marseillaise und wir wissen auch, wie wichtig der Gesang bei der Reformation für Martin Luther war. Mit der Stimme kann man viel bewirken.“

Melodien haben Kraft

Melodien machen Worte stärker. Sätze berühren mehr, wenn Töne und Klänge sie begleiten. Man spürt so noch besser, was sie tatsächlich sagen.

„Singen ist schließlich ein archaisches Mittel, um Gefühle von Freude und Glück herauszulassen und mit anderen Menschen zu teilen“, sagt Prof. Dr. Gunter Kreutz. Kein Wunder also, dass es auch in der Bibel eine große Rolle spielt. Die Psalmen sind ursprünglich mal richtige Lieder gewesen, Gebete zum Singen und Musizieren. „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!“ (Psalm 103, 2) Sich an etwas Schönes erinnern und Gott loben gehen da in einem Atemzug zusammen. Und auch diese Worte werden intensiver, berühren mehr, wenn man sich vorstellt, wie Töne und Klänge sie begleiten.

Singend wurde auch die Botschaft der Reformation zum Erfolg. Kirchenlieder in der Sprache des Volkes und eingängige Melodien als Ohrwürmer erwiesen sich als optimale Träger für die Botschaft Martin Luthers.

Wir sollten öfter singen!

Die Stimme ist ein Instrument, für das es nichts anderes braucht als uns selbst. Mit der richtigen Atemtechnik kann der menschliche Körper zu einem großen Klangraum werden. Singen können alle, immer und überall. Unser eingebautes Instrument ist immer dabei, ein Vorteil, den nur Sängerinnen und Sänger haben. Singen macht nicht nur Spaß, sondern hält auch körperlich und seelisch gesund. Wolfgang Ambros sagt: „Es ist egal wie, schlimm ist, wenn man nicht singt!“ Lassen Sie uns also zum Singen Mut machen – nicht nur im Jahr der Stimme!

Ilona-Maria Kühn

Bild: Peter Weidemann in: Pfarrbriefservice.de